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Experten streiten über Verfassungsmäßigkeit von Lindners Nachtragsbudget

Erscheinungsdatum Website: 10.01.2022 16:55:02
Erscheinungsdatum Publikation: 11.01.2022

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BERLIN (Dow Jones)--Rechtsexperten haben sich bei einer Anhörung im Bundestag uneins über die Verfassungsmäßigkeit des von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) vorgelegten Nachtragshaushaltes für 2021 gezeigt, mit dem 60 Milliarden Euro an nicht verbrauchten Kreditermächtigungen in den Energie- und Klimafonds zur Finanzierung von Klimainvestitionen übertragen werden sollen. Volkswirte werteten das Vorhaben bei der Anhörung im Bundestagshaushaltsausschuss allerdings weitgehend als ökonomisch sinnvoll.

Der Speyrer Verfassungsrechtler Joachim Wieland erklärte, das Nachtragshaushaltsgesetz entspreche den Anforderungen des Grundgesetzes. Diese Feststellung basiere auf einer Analyse des Sachverhalts und einer verfassungsrechtlichen Bewertung. In dem Gesetzentwurf werde deutlich herausgearbeitet, dass Klimaschutz und Transformation der Bekämpfung der pandemiebedingten Folgen für die Wirtschaft dienten. "Es kann alles so umgesetzt werden, ohne dass verfassungsrechtliche Beanstandungen zu befürchten sind", sagte er. Rechtsprofessor Alexander Thiele von der Business & Law School Berlin erklärte, der Nachtragshaushalt sei "insgesamt als verfassungsgemäß anzusehen". Der Zweck der Mittelverwendung laufe dem Grundgesetz nicht zuwider. "Es ist wenig sinnvoll, jetzt Geld zu sparen, damit es dann später sehr viel teurer wird", hob er hervor.

Hingegen sah der Staatsrechtler Christoph Gröpl von der Universität des Saarlandes "sehr, sehr schwere verfassungsrechtliche Bedenken". Es bestehe kein konkreter Veranlassungszusammenhang zwischen den 60 Milliarden an Kreditermächtigungen und dem Klimaschutz. Kredite aufzunehmen, die für eine Notlage gedacht seien, gehe in der Situation nicht. Geld, das man nicht habe, solle für eine Krise eingesetzt werden, die keine Notlage oder Naturkatastrophe darstelle. "Dafür muss sich der Haushaltsgesetzgeber etwas Besseres einfallen lassen." So müsse er die Bevölkerung auch mit Sparmaßnahmen konfrontieren. Der Würzburger Rechtsprofessor Kyrill-Alexander Schwarz sah die Voraussetzungen für die Regelung des Nachtragsbudgets ebenfalls nicht als erfüllt an. Kritik kam auch vom Bundesrechnungshof, der den Nachtragshaushalt bereits im Vorfeld als "unter mehreren Aspekten verfassungsrechtlich zweifelhaft" eingestuft hatte.

Ökonomen zeigten sich hingegen positiv zu den Plänen. Aus rein ökonomischer Perspektive sei die Strategie "sachgemäß", sagte der Karlsruher Finanzwissenschaftler Berthold Wigger. Dies gelte allein schon vor dem Hintergrund einer ökonomisch weiter sehr fragilen Situation, und so könne "eine ökonomische Erwartungsstabilisierung erreicht werden". Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum betonte, selbst bis 2023 würden die Investitionen noch nicht den Vorkrisenpfad erreicht haben. Von daher sei es für ihn "gar keine Frage", dass eine enge Krisenkonnexität der geplanten Maßnahmen bestehe.

Die Nutzung einer Rücklage sei genau das "Mittel der Wahl", um effizient Mittelabflüsse für längerfristig angelegte Investitionsstrategien zu erreichen. Das Konstrukt sei aus ökonomischer Sicht sehr gut gewählt, und die Verfassungsmäßigkeit des Nachtragshaushaltes sei "unbedingt gegeben". Auch die Finanzwissenschaftlerin Lena Dräger von der Universität Hannover erklärte, es biete sich absolut an und sei im Sinne der Konjunkturpolitik, "die Investitionstätigkeit, die unter der Pandemie gelitten hat, zu verbinden mit transformativen Beihilfen in Richtung Klimaneutralität".

DJG/ank/mgo

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