Finanz- und Wirtschaftsspiegel

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Die Schweizer Neutralität steht auf dem Prüfstand

Erscheinungsdatum Website: 13.08.2025 14:00:02
Erscheinungsdatum Publikation: 14.08.2025

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DOW JONES--Die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump hat die globalen Lieferketten neu geordnet, Investitionskarten neu gezeichnet und alte Allianzen auf die Probe gestellt. In der Schweiz hat sie außerdem eine unangenehme Überprüfung ihrer Rolle in der Welt ausgelöst. Die Schweiz florierte jahrhundertelang als ehrlicher Makler und diplomatisches Kraftzentrum. Der Spanische Erbfolgekrieg zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich endete schließlich 1714 mit einem in der Kleinstadt Baden unterzeichneten Vertrag.

Viele in dem Alpenland - das die USA kürzlich mit einem der weltweit höchsten Zollsätze belegt haben - fragen sich nun, ob sein jahrhundertealtes Modell der Neutralität und des Sonderwegs in einer transaktionalen, machtgetriebenen Welt noch zweckmäßig ist. In dieser neuen Welt ist die Schweiz, die Heimat von Davos und multilateralen Organisationen wie der Welthandelsorganisation und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, ein Symbol für einen Globalismus, der in vielen Hauptstädten aus der Mode gekommen ist.

"Die Schweiz kann nicht mehr wie früher zwischen den Blöcken navigieren", sagte Jon Pult, Nationalrat und Vizepräsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. "Das ist vorbei, wir leben nicht mehr in dieser Welt." Adrian Steiner, Vorstandsvorsitzender des Kaffeemaschinenherstellers Thermoplan, der Starbucks und McDonald's beliefert, sagte, der Erfolg der Schweiz sei darauf zurückzuführen, dass "unser System in der Welt der alten Regeln recht gut funktioniert hat". "Aber wir haben jetzt eine neue Art von Politik, in der das alles weg ist", sagte er. "Wir sind zu klein, um im Spiel der Großen mitzuspielen. Da ist es nicht so wichtig, ob man neutral ist oder nicht."

Die Verhängung eines Zolls von 39 Prozent in der vergangenen Woche - trotz monatelanger Verhandlungen - hat die Schweiz schockiert, für die die USA der größte einzelne Exportmarkt für ihre Waren wie Uhren, Schokolade, Pharmazeutika und Werkzeugmaschinen sind. Die Titelseite der Tageszeitung Blick vom Donnerstag war ganz in Schwarz gehalten und zeigte 39 Prozent in großer weißer Schrift mit der Aufschrift "Ein schwarzer Tag für unser Land."

Schweiz hat einen der höchsten Handelsüberschüsse mit den USA

Der Hauptgrund für den hohen Zollsatz ist, dass die Schweiz einen der größten Handelsüberschüsse bei Waren mit den USA aufweist, der in diesem Jahr bis Juni 48 Milliarden US-Dollar betrug. Der Überschuss ist in letzter Zeit in die Höhe geschnellt, weil die Importe von Pharmazeutika und Gold gestiegen sind, die vor den erwarteten Zöllen in die USA gelangen sollten.

Politiker und Analysten haben verschiedene Ideen ins Spiel gebracht, um Trump zu besänftigen - vom Kauf von mehr US-Rindfleisch, Flüssigerdgas und F-35-Kampfjets bis hin zur Verlegung des Hauptsitzes der FIFA, des Weltfußballverbands, von Zürich nach Miami. Doch nach einer gescheiterten Last-Minute-Mission in Washington in der vergangenen Woche sagte die Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter, dass schnelle Lösungen nicht in Sicht seien.

Das ist ein Problem für Schweizer Unternehmen, die sagen, dass sie nicht wettbewerbsfähig seien, wenn die Nachbarländer Deutschland und Frankreich nur 15 Prozent zahlten. Der Branchenverband Swissmem nannte es ein "Horrorszenario" und erklärte, die Abgaben könnten die Schweiz Zehntausende von Arbeitsplätzen kosten.

Gruyère-Absatz in den USA könnte teilweise zusammenbrechen

Die Interprofession du Gruyère, ein Branchenverband, der 1.600 Milchviehbetriebe vertritt, die den gleichnamigen Käse herstellen, schrieb, sie erwarte, dass das US-Geschäft - das bis zu einem Drittel der Schweizer Gruyère-Exporte ausmacht - teilweise zusammenbrechen werde. Der Medizintechnikhersteller Ypsomed kündigte an, einen Teil seiner für die USA bestimmten Produktion an seinen deutschen Standort zu verlagern und Pläne zum Aufbau einer US-Produktionsstätte zu beschleunigen. Steiner sagte, auch Thermoplan prüfe eine Verlagerung der Produktion, denn "entweder droht uns ein Geschäftsverlust oder wir verlagern das Geschäft."

Auch die 200 Jahre alte Neutralitätspolitik der Schweiz war während des russischen Krieges gegen die Ukraine schwer zu verteidigen. Unter dem Druck ihrer größeren Nachbarn und der Biden-Regierung schloss sich die Schweiz den EU-Sanktionen gegen Moskau an. "Es ist ein Mythos, dass Neutralität vor allen Sicherheitsbedrohungen schützt, denn Neutralität ist nur dann etwas wert, wenn die anderen akzeptieren, dass man neutral ist", sagte Stefanie Walter, Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie an der Universität Zürich.

Debatte über engere Bindung an die EU

Trumps Zölle kamen zu einer Zeit, in der die Schweizer ohnehin darüber debattierten, ob sie engere Beziehungen zur EU knüpfen sollen. Die Schweiz ist kein EU-Mitglied - und nur wenige glauben, dass sie es jemals sein wird - aber sie ist durch ein Netz von bilateralen Abkommen tief integriert. Ein Paket von Abkommen, das den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt erweitert, wird möglicherweise nächstes Jahr einem Referendum unterzogen.

Die Kampagne ist bereits entflammt. Marcel Dettling, Präsident der rechtsgerichteten Schweizerischen Volkspartei, die engere EU-Beziehungen ablehnt, veröffentlichte kürzlich ein Video, in dem er die Wahl als eine zwischen "Freiheit und Knechtschaft" bezeichnete. Darin zündet er die Seiten des EU-Abkommens an und benutzt eine mittelalterliche Hellebarde, um eine Wurst über den Flammen zu braten.

Analysten sagen jedoch, dass das Zolldrama die Pro-EU-Kampagne beflügeln könnte. "Plötzlich sieht dieser Deal viel, viel besser aus als noch vor zwei Wochen", sagte Walter. Hans-Peter Portmann, Nationalrat der Freien Demokratischen Partei der Schweiz, sagte, dass die Schweiz zwar kein EU-Mitglied werden und ihr Modell der direkten Demokratie opfern könne, aber ihre geopolitischen Prioritäten neu ausrichten müsse. "Ein kleines Land wie die Schweiz läuft Gefahr, zerquetscht zu werden", sagte er. "Der Zollstreit mit den USA hat vielen in der Schweiz die Augen geöffnet."

DJG/DJN/hab/sha

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