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Wirtschaftsweise dringen auf Investitionen "in die Zukunft"

Erscheinungsdatum Website: 10.11.2023 21:15:02
Erscheinungsdatum Publikation: 13.11.2023

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BERLIN (Dow Jones)--Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) hat die Politik aufgefordert, für mehr Investitionen in wirtschaftliche Zukunftsfelder und für Reformen für mehr Kapitalmarktnutzung und zur Sicherung des Rentensystems zu sorgen. Die fünf Wirtschaftsweisen erwarten für 2023 einen Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,4 Prozent und für 2024 ein Wachstum von 0,7 Prozent. Die Inflationsrate wird nach ihrer Prognose voraussichtlich in diesem Jahr 6,1 Prozent betragen und im kommenden 2,6 Prozent.

"Deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahre sind die demografische Alterung, das geringe Produktivitätswachstum, der veraltete Kapitalstock sowie die geringe Anzahl junger und innovativer Unternehmen", erklärten sie. "Um die Wachstumsschwäche zu überwinden, muss Deutschland in seine Zukunft investieren", sagte die SVR-Vorsitzende Monika Schnitzer. Um die Wachstumschancen zu erhöhen, seien mehr Innovationen und Investitionen notwendig. Dies erfordere liquidere Kapitalmärkte, eine stärkere Aktienkultur und mehr Wagniskapital. Die demografische Alterung mache auch langfristig orientierte Rentenreformen nötig.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte sich bei Entgegennnahme des Gutachtens optimistisch für einen Konjunkturaufschwung im kommenden Jahr und hob die mit den Ländern vereinbarten Verfahrensbeschleunigungen als wichtigen Punkt hervor. "Wir müssen dafür sorgen, dass wir jetzt wieder auf die Spur kommen und die Wachstumsprozesse voranbringen", sagte Scholz. "Es geht um zukünftiges Wachstum, und das wollen wir 2024 wieder sehen." Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erklärte, der SVR bestätige zum einen Maßnahmen wie das Wachstumschancengesetz, um die Konjunktur zu stärken. "Er legt aber auch den Finger in die Wunde, dass wir weitere Reformen brauchen", erklärte der FDP-Vorsitzende über den Kurznachrichtendienst X.

Energiekrise bremst Konjunkturerholung

"Die konjunkturelle Erholung in Deutschland verzögert sich", konstatierte Schnitzer bei einer Pressekonferenz. "Sie wird noch gebremst von der Energiekrise und den gesunkenen Realeinkommen." 2024 sei aber mit einer Ausweitung des privaten Konsums um 1,1 Prozent zu rechnen. Während die Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmitteln deutlich abnähmen, dürfte die Kerninflation aber auch im kommenden Jahr erhöht bleiben. Dies liege unter anderem an den stark gestiegenen Lohnstückkosten, die zu anhaltenden Preissteigerungen bei Dienstleistungen führen dürften.

In der Kurzfristprognose dominieren nach Einschätzung der fünf Weisen die Abwärtsrisiken. So sei die Entwicklung der Weltwirtschaft schwer abzusehen, darüber hinaus könnten geopolitische Risiken wie eine Eskalation des Nahost-Konflikts oder eine weitere Verknappung des Energieangebots im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu neuen Energiepreisschüben führen. Schnitzer zeigte sich "milde zuversichtlich", dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des Nahost-Konflikts "begrenzt" blieben, sofern es nicht zu einem sehr viel größeren Konflikt mit weiteren Staaten komme. SVR-Mitglied Veronika Grimm warnte allerdings vor einem Risiko für Deutschlands Attraktivität für Fachkräfte und forderte, eine "Willkommenskultur" aufrechtzuerhalten.

Der SVR sah die mittelfristigen Wachstumsaussichten auf einem historischen Tiefstand. Nötig seien "stärkere Produktivitätsfortschritte durch Innovationen, Investitionen und mehr Dynamik bei Unternehmensgründungen", sagte Schnitzer. Nötig seien auch Reformen im Steuer-Transfer-System und im Rentensystem. Das Produktionspotenzial werde bis 2028 jährlich im Schnitt nur um 0,4 Prozent wachsen, sagte Grimm und forderte mehr Erwerbsanreize und eine ambitionierte Zuwanderungspolitik. Zugleich gelte es, "den Strukturwandel zuzulassen" und Investitionen zu mobilisieren, die die Produktivität steigerten. Einen Industriestrompreis nannte sie in dem Kontext "nicht so gut geeignet".

Nachholbedarf bei Finanzierung junger Unternehmen

Eine wichtige Rolle schrieben die fünf Weisen gut entwickelten und liquiden Kapitalmärkten zu. Diese seien zentral, um die Wachstumsschwäche zu überwinden und die digitale und grüne Transformation zu finanzieren. Sie lenkten Kapital gezielt zu hochproduktiven Unternehmen und Wirtschaftsbereichen. Allerdings bestehe in Deutschland und anderen europäischen Ländern erheblicher Nachholbedarf bei der Finanzierung von jungen Unternehmen in der Wachstumsphase. "Große institutionelle Investoren in Europa sollten mehr Eigen- und Wagniskapital bereitstellen und so zur Unternehmensfinanzierung beitragen", forderte SVR-Mitglied Ulrike Malmendier. Dazu sollten institutionelle Rahmenbedingungen wie quantitative Anlagegrenzen und Exit-Optionen für Wagniskapitalgeber in Europa verbessert werden.

Zusätzliche kapitalmarktbasierte Finanzierung könnte ein öffentlich verwalteter Pensionsfonds als Baustein einer kapitalgedeckten Altersvorsorge zur Verfügung stellen. Durch diesen Fonds könnten mehr Haushalte am Kapitalmarkt mit attraktiven Anlagemöglichkeiten teilnehmen und somit die Aktienkultur stärken. "Um die großen Renditevorteile sowie das geringe Risiko breit gestreuter Anlagefonds allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen, sollten schon Kinder und Jugendliche mit einem Startkapital ausgestattet werden, das in einen solchen Fonds investiert wird", erklärte Malmendier. "Wir schlagen ein staatlich finanziertes Startkapital für Kinder und Jugendliche vor."

Die fünf Weisen sprachen sich zudem für eine Reform der Grundsicherung aus, um die Armutsgefährdung zu senken und Erwerbsanreize zu stärken. Hierzu sollten die Leistungen gebündelt werden. Eine Reform des Ehegattensplittings könne die Erwerbsanreize von verheirateten Zweitverdienenden stärken. Zudem forderten die Ökonomen eine Kombination verschiedener Reformoptionen für die Rentenversicherung. Kernelement solle die Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung kombiniert mit neuer kapitalgedeckter Altersvorsorge sein. Nötig sei eine "moderate" Anhebung der Regelaltersgrenze nach 2032, sagte SVR-Mitglied Martin Werding. Das Rentenalter müsse dann laut Berechnungen alle zehn Jahre um ein halbes Jahr steigen. Ausdrücklich sprach er sich für eine Aktienrente aus.

DJG/ank/brb/13.11.2023

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