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Bayer sieht sein Potenzial im Pharmageschäft unterschätzt

Erscheinungsdatum Website: 14.01.2021 17:25:02
Erscheinungsdatum Publikation: 15.01.2021

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FRANKFURT (Dow Jones)--Bayer steht nach den Milliardenabschreibungen auf sein Agrargeschäft vom Herbst massiv unter Druck. Zwei Jahre nach der Übernahme des US-Saatgutriesen Monsanto ist offen, ob die Früchte des 63 Milliarden Dollar schweren Abenteuers je geerntet werden können. Nötig ist dazu auch eine nachhaltige Lösung der Rechtstreitigkeiten rund um den Unkrautvernichter Glyphosat, die bislang nicht gefunden steht.

Bislang florierte immerhin das vergleichbar große Pharmageschäft. Das ist bislang stark von seinen Blockbuster-Medikamenten getrieben, und hier läuft bald wichtiger Patentschutz aus. Mit Generika werden dann die Preise und damit auch die Umsätze fallen. Pharma-Vorstand Stefan Oelrich, der Ende 2018 von Sanofi zu Bayer zurückkehrte, bringt auf dem Medientag am Mittwoch deshalb die Botschaft unters Volk, der Konzern stehe mittlerweile "an der Spitze der Innovationswelle in der Zell- und Gentherapie".

Der Manager muss erklären, wie er die in den nächsten Jahren zu erwartende Umsatzlücke aus den beiden mit Abstand wichtigsten Bestsellern schließen will. "Als ich hier angefangen habe, vor zwei Jahren, bin ich schon begrüßt worden mit den Worten: Was machst Du mit Xarelto und Eylea, wenn die aus dem Patent laufen", sagt der 52-Jährige im Interview mit Dow Jones Newswires.

Der Blutverdünner Xarelto und das Augenmedikament Eylea lieferten 2019 Einnahmen von 4,1 Milliarden und 2,5 Milliarden Euro und damit mehr als ein Drittel des Gesamtumsatzes der Pharmasparte - bei zugleich stetigem, starkem Wachstum. In China, wo Bayer besonders starke Wachstumsraten erzielt, wird es bereits in diesem Jahr billige Nachahmermedikamente für Xarelto geben. Das wird man wohl auch in der Bilanz sehen. 2024 endet dann auch die Exklusivität in Europa - auch für Eylea.

Oelrich kennt die Befürchtungen der Analysten, denn derart umsatzstarke Nachfolger sind nicht in Sicht. Zwar ist mit dem Prostatakrebsmedikament Nubeqa inzwischen ein neuer Blockbusterkandidat im Verkauf, der sich nach seinen Worten sogar besser schlägt als geplant, doch hier liegen die sogenannten Peak Sales, die erwarteten Höchstumsätze, bei 1 Milliarde Euro. Das gleiche gilt für das Nierenmittel Finerenon sowie für Vericiguat zur Behandlung von Herzinsuffizienz, die beide auf ihre behördliche Zulassung warten. Bei Vericiguat muss sich Bayer überdies die Einnahmen mit Merck USA teilen.

Pharma-Chef Oelrich glaubt, dass die Analysten Bayers neue Stärken unterschätzen und dass die Befürchtungen hinsichtlich Xarelto und Eylea übertrieben sind, wie er im Interview durch die Blume sagt: "Der Verlust der Exklusivität zieht sich über die ganze Dekade hinweg, und ich bin mir nicht sicher, ob das in der Profilbeurteilung richtig reflektiert ist." Das will er auf dem Kapitalmarkttag im März ändern. Dann soll es Zahlen geben, wie genau Patentausläufe und Medikamentenanläufe sich bilanziell in den nächsten Jahren auswirken.

Doch schon jetzt macht auf Nachfrage Oelrich deutlich, dass eine echte Delle im Pharmageschäft eher nicht zu befürchten ist. Kurzfristig sollen dafür Neuzulassungen aus der aktuellen Medikamentenpipeline sorgen, zu denen auch ein neues Medikament zur Behandlung häufiger Symptome der Wechseljahre gehört, das 2020 eingekauft wurde und in diesem Jahr in die klinische Phase III gehen wird. Mittelfristig, also für die Zeit nach 2024, wenn Xarelto und Eylea ihren Patentschutz verloren haben, setzt Oelrich auf Zell- und Genforschung.

Hier hat sich Bayer in den vergangenen Jahren ein respektables Portfolio von Start-ups gekauft und durch Kooperationen und Lizenzen ergänzt. Mehr als 25 Transaktionen waren es allein im vergangenen Jahr. Oelrich spricht von Investitionen im hohen einstelligen Milliardenbereich, die in seiner Amtszeit für Projekte außerhalb der klassischen Pharmaforschung locker gemacht wurden, darunter im Herbst der mit 4 Milliarden Dollar teuerste Zukauf des US-Start-ups Asklepios Biopharmaceutical.

Und Bayer habe noch weitere Firmen auf dem Zettel, wenn auch nicht in dieser Größenklasse, verrät er. Oelrich sieht den Leverkusener Konzern mit Expertisen in der Stammzellentechnik, der Genaugmentation und Geneditierung sowie bei Technologien der Zelltechnik zur Krebsbehandlung mittlerweile unter den Top-5-Unternehmen in diesem Zukunftsgeschäft - in einer Liga mit Novartis oder Bristol Myers.

Zell- und Gentherapien kommen mit dem Versprechen, nicht nur die Symptome schwerwiegender Krankheiten bekämpfen zu können, sondern deren Ursachen. Nicht nur bei Bayer ist von einer biomedizinischen und technologischen Revolution die Rede, die sich gerade in der Branche vollzieht.

Als ein Beispiel führt Oelrich zwei Ansätze zur Behandlung von Parkinson an, die sich der Konzern eingekauft hat. Es wäre ein Durchbruch, sollte es tatsächlich gelingen, die fortschreitende Nervenkrankheit heilen zu können, an der weltweit 7,5 Millionen Menschen leiden. Und das ist nicht einmal entfernte Zukunftsmusik: Gerade hat die US-Gesundheitsbehörde FDA etwa der Bayer-Tochter Bluerock erlaubt, Patienten aus Stammzellen erzeugte Neuronen zur Dopaminerzeugung ins Mittelhirn einzupflanzen, die durch die degenerative Erkrankung verloren gegangen sind. Die klinische Phase-I-Studie soll in Zusammenarbeit mit dem berühmten Memorial Hospital in New York umgesetzt werden.

Dieses Programm eingerechnet hat Bayer insgesamt sieben fortgeschrittene Produkte aus dem Bereich der Zell- und Gentherapie seiner Pipeline hinzugefügt - darunter auch die Bluterkrankheit, die Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe und Herzinsuffizienz. Es sind frühe Wetten, die Bayer eingegangen ist. Risiken für Fehlschläge gebe es natürlich auch hier, räumt Oelrich ein, doch seien die Entwicklungszyklen kürzer und die Aufwendungen für Forschungsprogramme geringer als bei klassischer Molekülforschung.

"Der große Unterschied ist, dass man durch die Technologieplattformen eine Basis für eine nachhaltige Medikamentenpipeline schafft", sagt Wolfram Carius, der dafür sorgen soll, dass die zugekauften Aktivitäten für Zell- und Gentechnik gut zusammenwirken. Jährlich, so die Erwartung, sollen die eingekauften Plattformen von Bluerock bis Askbio drei Produktkandidaten liefern, die an Menschen erprobt werden dürfen.

Und wie das Beispiel Parkinson zeigt, wird sich Bayer mit Hilfe der Plattformen künftig auch abseits seiner traditionellen Kompetenzen Frauengesundheit, Herz-Kreislauf und Krebsmedizin bewegen. An der klassischen Forschung dort wird Bayer zugleich festhalten, weshalb Oelrich "bereits in der zweiten Hälfte der Dekade eine ganz andere Produktivität" erwartet, "sowohl was die Quantität als auch die Qualität anbetrifft, die aus unserer Pipeline kommt".

Deshalb müssten Bluerock und Askbio auch unbedingt selbstständig bleiben, sagt Carius - geführt on arm length, wie es in der Managersprache heißt. Nur dann bleibe der Geist des Start-ups erhalten, die absolute Fokussierung auf ein Produkt. Innerhalb eines großen Pharmakonzerns sei die kaum möglich. Der liefert allerdings die Ressourcen, die den Start-ups fehlen - etwa die Expertise bei der Zulassung oder die spätere Vermarktung.

In der Biotech-Branche kann Bayer mit dem Ansatz punkten. Gerade erst konnte Askbio die bekannte Forscherin Katherine High für die Leitung der klinischen Studien verpflichten. High ist mit ihrem eigenen Startup Sparks vor wenigen Jahren die weltweit erste Zulassung einer Gentherapie zur Behandlung Erbkrankheit gelungen.

Pharma-Chef Oelrich sieht gute Chancen, dass auch der Finanzmarkt bei seiner Transformationsgeschichte anbeißen wird. "Ich glaube, dass wir eine ganz große Tür aufgestoßen haben, die bei Anlegern viel Fantasie erzeugen kann", sagt er.

chem

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