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Bulgarien-Frage verdeutlicht europäische Identitätskrise

Erscheinungsdatum Website: 27.02.2018 14:10:30
Erscheinungsdatum Publikation: 28.02.2018

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Sinnbild der europäischen Identitätskrise / Sofia will den Euro einführen / Von Simon Nixon

SOFIA (Dow Jones)--Europäische Politiker diskutieren ständig, wie sie die EU am besten reformieren könnten. Die theoretischen Pläne werden in der Regel jedoch nur in die Tat umgesetzt, wenn konkrete Ereignisse sie zum Handeln zwingen. Die Entscheidung, ob Bulgarien dem Euro-Raum beitreten darf, dürfte die Gemeinschaft nun wieder in Zugzwang bringen. Im ärmsten Land in der Union liegt das Pro-Kopf-BIP kaum bei der Hälfte des EU-Durchschnitts. Dennoch will Bulgarien bis Mitte des Jahres den Beitritt zum Wechselkursmechanismus beantragen, der praktisch das Sprungbrett in die Währungsunion darstellt. Die Antwort aus Brüssel wird weitreichende Konsequenzen haben.

Streng juristisch gesehen ist das einzig korrekte Vorgehen, Bulgarien aufzunehmen. Das Land ist zum Eintritt in den Wechselkursmechanismus laut den Mitgliedschaftsbedingungen sogar verpflichtet - und erfüllt bereits alle Kriterien. Die Währung ist seit 20 Jahren an die D-Mark und den Euro gekoppelt und ist von diesem Kurs kein einziges Mal abgewichen. Das Land erzielt sowohl einen Haushalts- als auch einen Außenhandelsüberschuss, die Staatsverschuldung liegt bei nur 25% des BIP, und die Inflation liegt bei 1,8% - also nahe dem Zielwert der Europäischen Zentralbank.

Tatsächlich hält sich Bulgarien strenger an die Regeln der Währungsunion als die meisten der Mitglieder. Die Regierung ist überzeugt, dass die Mitgliedschaft im Euro der Wirtschaft helfen wird, zur restlichen Eurozone aufzuschließen, da etwa die Investitionsrisiken als geringer wahrgenommen würden. Viele EU-Politiker zögern dennoch. Einige argumentieren, dass die bulgarische Wirtschaft zu schwach sei, um im selben Währungsraum wie Schwergewichte wie Deutschland zu existieren. Eine Aufnahme Bulgariens könne Krisen wie die in Griechenland und anderen finanziell überforderten Euro-Mitgliedern auslösen.

Andere glauben, dass die Korruptionsprobleme und die Schwächen des Justizsystems den Rest der Währungsunion so manchen Risiken aussetzen könnten. Diese Ängste wurden vergangene Woche durch den Kollaps einer lettischen Bank verstärkt, nachdem das US-Finanzministerium das Institut beschuldigt hatte, für russische Kunden Geld zu waschen. Die bulgarische Regierung argumentiert, dass der Vergleich mit dem benachbarten Griechenland nicht gerechtfertigt sei. In den zehn Jahren vor und nach dem Beitritt zur Währungsunion habe Hellas mit einer schuldengetriebenen Aufblähung des Staatsapparats und der Pensionsversprechen seine öffentlichen Finanzen zerstört und die Wettbewerbsfähigkeit untergraben. Als Griechenland insolvent wurde und die größte Rettungsaktion aller Zeiten nötig wurde, stemmte es sich zudem gegen die Sparpolitik.

"Haushaltsdisziplin ist wie eine Religion"

Bulgarien hingegen praktiziert seit dem eigenen finanziellen Kollaps 1996 höchste Haushaltsdisziplin. Trotz relativ niedriger Lebensstandards und schweren Defiziten im Bildungs- und Gesundheitssystem genießt das Wirtschaftssystem des Landes durch die Bank große Unterstützung. Es basiert auf geringen, einheitlichen Steuersätzen und einem ausgeglichenen Etat. "Haushaltsdisziplin ist in Bulgarien wie eine Religion", sagt Finanzminister Vladislav Goranov.

Die Gegner der bulgarischen Euromitgliedschaft haben beim Thema Rechtsstaatlichkeit einen besseren Grund zur Sorge. Elf Jahre nach dem EU-Beitritt wird Bulgarien immer noch von Brüssel überwacht, um die Unabhängigkeit und Effektivität des Justizsystems zu stärken - doch es gibt kaum noch Fortschritte. Eine Untersuchung aus dem vergangenen Jahr hat 17 Bereiche identifiziert, wo noch Reformen nötig seien. Trotz wiederholter Skandale wurde bisher kein hochrangiger Beamter wegen Korruption verurteilt - auch nicht, nachdem 2014 offenbar aufgrund von Konflikten zwischen rivalisierenden Geschäftsleuten die viertgrößte Bank des Landes zusammenbrach.

Die Regierung erkennt diese Probleme an. Nach Jahren der politischen Instabilität will man jetzt endlich Justizreformen durchsetzen. Das Land verweist jedoch auch auf Euroländer, die ebenfalls mit solchen Schwierigkeiten kämpfen. Laut einem Eurobarometer aus dem vergangenen Jahr sagen 27% der Bulgaren, dass sie im Alltag schon einmal von Korruption berührt worden seien, in Spanien sind es 58, in Zypern 50 und in Griechenland 46%. Sorgen um das bulgarische Bankensystem weist die Regierung zurück. 70% der Aktiva seien in der Hand von Töchtern großer europäischer Kreditinstitute, und als Euro-Mitglied wäre das bulgarische Finanzsystem ohnehin unter der Aufsicht der EZB.

Diesen Sorgen liegt jedoch eine einfache Frage zugrunde: Ist die EU selbst eine Gemeinschaft, die auf Rechtsstaatlichkeit basiert? Die Verträge legen eindeutig dar, dass die Aufnahme in die Währungsunion von objektiven Kriterien abhängt. Eine Aufnahme Bulgariens mag manche Mitglieder nervös machen, eine Absage würde jedoch zwei wichtige Verwerfungslinien der EU verdeutlichen: Viele sehen eine Vertrauenskrise, weil die Gemeinschaft so politisiert worden sei, dass objektive Kriterien nicht mehr konsequent angewendet werden. Und man fürchtet, dass die Länder in Zentral- und Osteuropa als EU-Mitglieder zweiter Klasse behandelt werden.

"Wenn ihnen die Regeln nicht gefallen, sollten sie sie ändern", sagt ein hochrangiger bulgarischer Beamter. Die Regierung will diese Frage noch vor Ende Juni klären, bevor Bulgarien den rotierenden EU-Vorsitz abgibt. Die Bevölkerung hat 20 Jahre der Haushaltsdisziplin hingenommen und fordere nun "die Belohnung", so Goranov. Die Reaktion aus Brüssel könnte sich stärker auf die langfristige Zukunft der Gemeinschaft auswirken als jede theoretische Debatte, die derzeit stattfindet.

ost/28.2.2018

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